20 März 2012

Sollte es einen direkt gewählten EU-Präsidenten geben?

Guido Westerwelle hat sich eine Idee angeeignet, die gut klingt, solange man nicht allzu viel darüber nachdenkt.
Es erscheint mehr als fraglich, ob der derzeitige deutsche Außenminister Guido Westerwelle (FDP/ELDR) nach 2013 jemals wieder ein politisches Amt innehaben wird. Die Zeit für seinen Eintrag in die Geschichtsbücher läuft ab, und womöglich ist das auch die Erklärung für seinen jüngsten europapolitischen Aktivismus. Vor etwa zwei Wochen jedenfalls machte er den Vorschlag, eine neue „europäische Verfassung“ auszuarbeiten. Die Idee wurde von den übrigen Ländern mit bestenfalls gemischten Reaktionen aufgenommen, und zu dem Treffen der interessierten Außenminister, das heute in Berlin stattfinden soll, hat nicht einmal die Hälfte der übrigen Mitgliedstaaten ihr Kommen angekündigt. Erwartet werden nur Frankreich, Italien, Polen, Spanien, Portugal, Belgien, die Niederlande, Österreich und Dänemark.

Interessant an Westerwelles Vorschlag ist besonders seine inhaltliche Vagheit. Außer zum Ratifikationsverfahren (per Volksabstimmung, allerdings nur auf nationaler, nicht europäischer Ebene) äußerte er sich bislang lediglich zu einem einzigen Punkt, den er mit der neuen Verfassung verwirklicht sehen wolle: nämlich die „Direktwahl eines europäischen Präsidenten, der zuvor in ganz Europa antreten und für sich werben müsste“.

Dieser Vorschlag ist nicht ganz neu. Schon Joschka Fischer (Grüne/EGP) vertrat ihn 2000 vor dem Gipfel von Nizza, und Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) wiederholt ihn seit einigen Jahren wie ein Mantra. Und zunächst einmal klingt der Einfall auch durchaus verführerisch: Vergleicht man das geringe Medieninteresse für die Europapolitik mit der fiebrigen Aufregung, die die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen bereits Monate im Voraus auslösen, so scheint es ein naheliegender Ausweg zu sein, das Modell einfach zu importieren. Von den französischen Präsidentschaftswahlen heißt es etwas pathetisch, sie seien „die Begegnung eines Menschen mit einem Volk“: Wäre das nicht genau das Richtige für die Förderung einer europäischen Identität? Und demokratisch, wie schön, ist es irgendwie auch.

Legitimitätsüberschuss ohne Handlungsspielraum

Doch auf den zweiten Blick wirkt der Vorschlag weitaus weniger überzeugend. Einen Präsidenten vom Volk direkt wählen zu lassen, stattet ihn mit einer großen Portion an Legitimität aus – mit der er nur dann sinnvoll wird umgehen können, wenn er auch die entsprechende politische Macht dazu erhält. In der Geschichte der europäischen Integration wurde dieser Fehler schon einmal begangen, als man 1979 dazu überging, das Europäische Parlament direkt wählen zu lassen, ohne ihm jedoch echte politische Entscheidungsmacht zu geben. Das Ergebnis waren hohe Erwartungen, die die Abgeordneten nicht einhalten konnten; das Parlament erhielt seinen Ruf als Papiertiger, die enttäuschten Bürger blieben späteren Europawahlen fern, und als man mit den Vertragsreformen von Maastricht bis Lissabon endlich die Kompetenzausweitung des Parlaments nachholte, war der Schaden bereits angerichtet: Bis heute unterschätzt die Öffentlichkeit in der Regel den Einfluss der direkt gewählten Volksvertreter auf die Brüsseler Politik, und daran leidet natürlich auch deren Stand als demokratisch legitimierter Gesetzgeber.

Wollen wir dasselbe jetzt mit dem Kommissionspräsidenten wiederholen? (Westerwelle sprach von der Direktwahl eines „europäischen Präsidenten“, womit aber wohl derjenige des wichtigsten Exekutivorgans gemeint sein wird.) Die Kommission hat schon heute einigen Einfluss in der Europapolitik – doch anders als die US-Regierung, die vollständig dem Präsidenten untergeordnet ist, ist sie ein Kollegialorgan, in dem Entscheidungen von allen Mitgliedern gemeinsam getroffen werden. Ihr Präsident besitzt dabei lediglich eine Richtlinienkompetenz. Nicht einmal seine „Minister“ kann er sich selbst aussuchen: Vielmehr wird der Rest der Kommission auf Vorschlag des Europäischen Rats ernannt, wobei in der Praxis jede nationale Regierung einen Kommissar nominiert – und sich oft recht wenig darum schert, was der Präsident davon hält.

Unter diesen Umständen aber ist die Einführung eines direkt gewählten Präsidenten sinnlos. Um ihm das Betätigungsfeld zu schaffen, das er bräuchte, müsste man das politische System der Europäischen Union fast vollständig umbauen. Man müsste die Kommission zu einem streng hierarchischen Organ machen und Kommission, Parlament und Rat institutionell entflechten. Etablierte Formen der Konsensfindung wie das Komitologieverfahren würden unbrauchbar. Kurz, man müsste Jahrzehnte der europäischen Verfassungsentwicklung umkehren – oder man hätte nichts gewonnen als einen politischen weißen Elefanten: ein Amt mit einem Überschuss an demokratischer Legitimität, aber viel zu wenig Handlungsspielraum, um den damit verbundenen Erwartungen gerecht zu werden.

Europaparlament und europäische Parteien

Doch die Direktwahl des Präsidenten ist nicht nur unangebracht, sie ist auch vollkommen unnötig. Denn gerade bei der Besetzung der Kommission fand in den letzten Jahren eine starke Entwicklung hin zu mehr Demokratie statt – eine Entwicklung, die zur Europawahl 2014 ihre Früchte zeigen könnte. Dann nämlich wollen die europäischen Parteien erstmals die Möglichkeit nutzen, vor der Wahl Kandidaten für das Amt zu benennen. Sie würden damit den Europäischen Rat unter Zugzwang zu setzen, der dem EU-Vertrag zufolge bei der Nominierung des Kommissionspräsidenten die Ergebnisse der Europawahl „berücksichtigen“ muss. Wenn aber die Spitzenkandidaten der Parteien schon vor der Wahl feststehen, erhalten die Bürger die Möglichkeit, bei mit ihrer Wahlentscheidung selbst den Kommissionspräsidenten zu bestimmen – genau wie auch über den deutschen Bundeskanzler faktisch bei den Bundestagswahlen entschieden wird.

Gewiss, dieses Verfahren hat noch seine Tücken. Da die Europawahlen national fragmentiert sind, werden die Spitzenkandidaten der europäischen Parteien nur in jeweils einem der 28 Mitgliedstaaten auch wirklich auf dem Wahlzettel stehen. Transnationale Listen wären hier die Lösung, die leider zuletzt wieder weiter in die Ferne gerückt ist. Doch auch so liegt in den Plänen der europäischen Parteien ein enormes Potenzial. Die Spitzenkandidaten können den Europawahlen eine höhere öffentliche Aufmerksamkeit (und damit Wahlbeteiligung) verschaffen, während umgekehrt die Wahlen dem Kommissionspräsidenten eine bessere demokratische Legitimität bieten werden. Die SPE jedenfalls hat bereits ein Auswahlverfahren für ihren Spitzenkandidaten 2014 entwickelt, und auch die EVP wird wohl noch nachziehen.

Das Europäische Parlament ist also dabei, die Europawahlen mit neuem Sinn zu füllen und die Nominierung des Kommissionspräsidenten mit einer Intensivierung der parteipolitischen Debatte zu verbinden. Die Einführung einer Direktwahl jedoch würde diese Bemühungen zunichte machen – und anstelle der europäischen Parteien die Konkurrenz von Einzelpersonen in den Vordergrund stellen.

Alternativplan aus der Kommission

Es ist daher nicht allzu verwunderlich, dass zu Guido Westerwelles Treffen heute keine Vertreter des Europäischen Parlaments geladen sind; schließlich läuft sein Plan unmittelbar auf eine Schwächung der Abgeordneten hinaus. Doch bemerkenswerterweise wird auch die Europäische Kommission nicht dabei sein, wenn in Berlin über die künftige europäische Verfassung gesprochen wird. Interessiert es die Außenminister denn nicht, was die Kommissionsmitglieder selbst zu der Idee einer Direktwahl ihres Präsidenten sagen?

Eine von ihnen jedenfalls ist in den letzten Tagen vorgeprescht: Viviane Reding (CSV/EVP), die für Justiz, Grundrechte und Unionsbürgerschaft zuständige Vizepräsidentin der Kommission, hat einen eigenen Fünf-Punkte-Plan vorgelegt, wie sich die EU bis zum Jahr 2020 institutionell entwickeln sollte. Auch dieser Entwurf enthält einige leere Rhetorik; so soll 2013 das „Europäische Jahr der Bürgerinnen und Bürger“ werden, und man fragt sich unwillkürlich, wem denn dann wohl all die bisherigen Jahre gehört haben. Doch an den wesentlichen Stellen ist der Vorschlag außerordentlich konkret: Reding ist dafür, dass die Kommission samt ihrem Präsidenten künftig ausschließlich vom Europäischen Parlament gewählt wird. Außerdem will sie das Parlament durch ein Initiativrecht als Gesetzgeber stärken. Umgekehrt würde der Kommissionspräsident die Möglichkeit erhalten, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen.

Auch über den Reding-Plan wird in den nächsten Wochen und Monaten noch zu diskutieren sein. Doch schon jetzt ist klar, dass er der europäischen Demokratie sehr viel zuträglicher sein würde als die vagen Vorschläge aus dem Auswärtigen Amt in Berlin. Die Vorstellung, in Europa ein Präsidialsystem nach US-amerikanischem Vorbild aufzubauen, ist unrealistisch. Will man die EU heute demokratisieren, so muss man einem anderen Weg folgen: nämlich dem der Parlamentarisierung und der Stärkung der Parteien auf europäischer Ebene.

Bild: Janwikifoto [GFDL or CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.

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