20 November 2011

Deutsche, britische und europäische Reformvorschläge

Wieder einmal gibt es einen interessanten Kommentar von Timothy Garton Ash, der diesmal die EU-Reformpläne der deutschen und der britischen Regierung miteinander vergleicht. Dabei begrüßt er zunächst einmal, dass Merkel sich überhaupt dazu durchgerungen hat, mit der Forderung nach einer strikteren Durchsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts und nach der Einführung einer Finanztransaktionssteuer eine Vision zu unterbreiten, wohin sich Europa entwickeln sollte.

I have in the past heard Merkel herself characterise the German dilemma in relation to Europe like this: if we don't lead, they charge us with lack of European commitment; if we do, they accuse us of throwing our weight around. For two years, she's been confronted with the first charge; now she faces the second. Damned if you do, damned if you don't.

Ich habe in der Vergangenheit Merkel selbst das deutsche Dilemma in Bezug auf Europa folgendermaßen beschreiben hören: Wenn wir nicht führen, werfen sie uns fehlenden europapolitischen Einsatz vor; wenn wir führen, beschuldigen sie uns, unsere Macht auszuspielen. Zwei Jahre lang hat sie den ersten Vorwurf ertragen, jetzt stellt sie sich dem zweiten. Was man auch tut, es ist falsch.
Insofern sei die heutige deutsche Haltung durchaus lobenswert, fährt Garton Ash fort. Es gebe damit nur zwei Probleme, nämlich eines im Stil und eines im Inhalt. Bei Ersterem handelt es sich natürlich um Volker Jetzt-wird-in-Europa-Deutsch-gesprochen Kauder, dessen Tonfall „schlimm genug wäre, wenn die deutschen Politikvorschriften zur Rettung der Eurozone zu hundert Prozent richtig wären“. Leider seien sie aber auch das nicht, da die Bundesregierung sich weiterhin gegen die Maßnahmen weigere, die inzwischen von „so ziemlich jedem Wirtschaftswissenschaftler außerhalb Deutschlands“ gefordert würden: nämlich entweder der Europäischen Zentralbank die Unterstützung von bedrohten Regierungen zu erlauben oder gemeinsam abgesicherte Eurobonds einzuführen. Wenn die Bundesregierung hier nicht flexibler werde, „wird es womöglich bald keine Eurozone mehr zu retten geben“. Immerhin aber habe Deutschland überhaupt einen Vorschlag vorgebracht, den man nun kritisieren könne – anders als die britische Regierung, deren Premierminister David Cameron nur leere Floskeln von einem „vernetzten Europa“ von sich gebe, ohne zu erklären, was das eigentlich sein soll. Zuletzt schlägt Garton Ash deshalb etwas ironisch vor, dass auf dem nächsten Europäischen Rat am 9. Dezember die Regierungschefs eine geheime Abstimmung durchführen, ob ihnen das deutsche oder das britische Zukunftsmodell für die EU lieber ist: Man braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich die Isolierung Camerons auszumalen.

Warum Deutschland als dominant wahrgenommen wird

Wie schön, wenn bei Volker Kauder nur der Stil ein Problem wäre!
Nun hat Garton Ash zweifellos recht, was den britischen Premierminister und seine Worthülsen betrifft. Seine Haltung gegenüber der Bundesregierung scheint mir jedoch etwas zu nachsichtig zu sein, wenn er deren Argument, dass man sich durch politische Führung immer unbeliebt macht, einfach übernimmt. Sicher ist Merkel in den letzten Jahren zuerst ihre Zögerlichkeit vorgeworfen worden, weil sie keinen Plan zur EU-Reform hatte, und dann ihre Dominanz, als sie mit einem aufwartete. Aber immerhin ist Deutschland wirtschaftlich bereits seit einigen Jahrzehnten das unangefochtene Schwergewicht des Kontinents und nimmt infolgedessen auch schon lange eine Führungsrolle ein – und dennoch kannten zum Beispiel Konrad Adenauer und Helmut Kohl in der Vergangenheit offenbar nicht dieses Dilemma, aus dem Merkel nun keinen Ausweg sieht.

Der Grund dafür war, dass diese Kanzler recht bald eingesehen hatten, dass es in der Europapolitik nicht um Sieg oder Niederlage geht und Deutschland seine Vorhaben nur dann würde durchsetzen können, wenn diese auch für alle anderen Mitgliedstaaten erkennbare Vorteile enthielten. Indem sich die Bundesregierung immer wieder auch auf Seiten der kleinen Länder schlug oder sich zum Fürsprecher der Kommission und des Europäischen Parlaments machte, gewann sie im Rest der EU Glaubwürdigkeit und konnte erfolgreich eigene Ideen vertreten, ohne als selbstherrlich wahrgenommen zu werden.

Die heutige CDU dagegen weist in ihrem jüngsten Parteitagsbeschluss die Schuld an der Euro-Krise allein den überschuldeten Ländern zu (dazu sehr lesenswert Kash Mansori), fordert unter Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip „vor allem Anstrengungen der Staaten selbst“ und verlangt ansonsten, dass die EU mehr Durchgriffsrechte auf die Haushaltspolitik von Ländern erhält, die gegen den Stabilitätspakt verstoßen. Im Gegenzug dafür bietet sie … nichts: keine Eurobonds, kein Einsatz der EZB als lender of last resort. Lediglich der Europäische Stabilisierungsmechanismus wird in dem Parteitagsbeschluss mehrmals als große Geste der Solidarität beschrieben, obwohl der längst beschlossen und schon jetzt klar ist, dass sein Volumen nicht genügen wird, um die Krise zu überwinden – und natürlich beharrt die CDU darauf, dass jedes Hilfsprogramm auch künftig einzeln vom Bundestag abgesegnet werden muss, sodass Deutschland auch weiterhin die Bedingungen diktieren kann, unter denen diese Rettungsleistungen erbracht werden. Sollte ein Mitgliedstaat dann „dauerhaft nicht willens oder in der Lage sein, die mit der gemeinsamen Währung verbundenen Regeln einzuhalten“, so soll er die Eurozone bitteschön verlassen.

Für Deutschland selbst will die CDU dagegen den Einfluss der Europäischen Kommission nach Möglichkeit zurückfahren, schließlich kann es „nicht darum gehen, die Starken zu schwächen“, und überhaupt ist die europäische Integration „kein Selbstzweck“, ein „Zuviel an Regelungen“ muss unbedingt vermieden werden und es „muss auch möglich sein, Aufgaben wieder auf die Mitgliedstaaten zurückzuführen“. Selbst wenn die Idee, die Stimmen im Rat der EZB künftig nach Kapitalanteilen zu gewichten, offenbar nicht weiterverfolgt wurde: Aus dem Parteitagsbeschluss spricht nach wie vor kein föderaler Geist, sondern der Wunsch nach einer deutschen Hegemonie, die Volker Kauder nur offener als andere in Worte gefasst hat. Wenn das in anderen Ländern auf Ablehnung stößt, dann vielleicht nicht ganz ohne Grund – insbesondere angesichts der Tatsache, dass Deutschland bislang auch ökonomisch einer der Hauptprofiteure der Krise ist.

Und die Kommission?

Aber warum eigentlich will Timothy Garton Ash die Mitglieder des Europäischen Rates in drei Wochen nur über die Reformvorschläge von Merkel und Cameron abstimmen lassen? Einmal ganz davon abgesehen, dass es ja noch andere Staats- und Regierungschefs gäbe, die man nach ihren Europa-Visionen fragen könnte – ist nicht eigentlich die Europäische Kommission die Institution, die qua EU-Vertrag dazu berufen ist, das europäische Gesamtwohl im Blick zu haben? Und sollte nicht deshalb eigentlich ihr die Führungsrolle bei der Weiterentwicklung der Währungsunion zufallen?

Man will sich gar nicht vorstellen, wie Jacques Delors als Kommissionspräsident mit der Wirtschafts- und Schuldenkrise umgegangen wäre: Offensichtlich war dessen Charisma und Protagonismus bei den Integrationserfolgen der späten 1980er und frühen 1990er Jahre den nationalen Regierungen ja so unangenehm, dass sie seitdem nur noch möglichst blasse Kandidaten für dieses Amt vorgeschlagen haben. Aber auch der Anticharismatiker José Manuel Durão Barroso und sein Währungskommissar Olli Rehn haben die letzten Monate nicht nur untätig herumgesessen, sondern einige Vorschläge entwickelt, wie die Währungsunion künftig gestaltet sein sollte.

Diese Reformpläne, die nächste Woche offiziell vorgestellt werden sollen, sind im Gegensatz zu den deutschen tatsächlich ausgewogen: Sie kombinieren die Forderung nach Eurobonds, mit denen den überschuldeten Staaten finanziell geholfen wäre, mit derjenigen nach Durchgriffsrechten, um diese Staaten zu den notwendigen Strukturreformen zu bringen. Zweifellos ließe sich auch hier noch einiges kritisieren und verbessern. Aber als Ausgangsposition für die weitere Reformdebatte taugen die Kommissionspläne allemal mehr als die der CDU.

Bild: Dirk Vorderstraße [CC-BY-SA-2.0], via Wikimedia Commons.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.